Dunkle Nacht

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Überlegenheit sprach aus ihrer Stimme, aus ihrer Haltung. Bösartig lächelnd, fast dämonenhaft keuchend schlug ihr Atem Sabrina entgegen. „Was nun?“ Der lodernde Blick aus Melanies tiefliegenden Augen war fordernd. „Wirst du dich ergeben? Wirst du mir folgen? Mein sein?“ Ein hämisches Lachen. Unbarmherzig. Ohne Gefühl.


Wie konnte sie nur. Niemand hatte es je gewagt, so mit ihr zu sprechen. Sabrina war geschockt. Hatte es sie überrascht, dass Melanie ihr hierher gefolgt war? Und warum überhaupt war sie in diese dunkle Gasse gegangen? Eine einsame Straßenlampe spendete trübes Licht in der geisterhaft vernebelten Nacht. Wie sollte sie entkommen? Hinter einem Müllcontainer huschte ein Schatten über die Straße. Die Pflastersteine glänzten matt, noch nass vom frühabendlichen Regen. Über ihren Köpfen summte die Stromleitung eine leise Melodie. Wie war das alles nur passiert?


Es schien so lange her, dass alles begann. Als das Leben noch einfach, frei und unbeschwert war. Damals. Außerdem war es doch nur ein Scherz gewesen. Nichts weiter als ein dummer Streich. Niemals wäre ihr eingefallen, dass es Konsequenzen dieses Ausmaßes nach sich ziehen würde. Und Melanie war doch nur ein dummes schüchternes Mädchen gewesen. Neu in der Schule. Da hatte sie doch wissen müssen, was auf sie zukommen würde.


Das war jetzt über ein halbes Jahr her. Ende November war es gewesen, als Melanie in die Stadt gezogen war. Sie kam in die Abschlussklasse. Ausgerechnet. Das letzte Schuljahr und ihre Eltern geschieden. Ihre Mutter hatte sich dafür entschieden, ihr altes Leben komplett hinter sich zu lassen. Ihre Tochter hatte sie nicht gefragt. Einfach vorausgesetzt, dass diese mitkommen und sich schon an alles gewöhnen würde. Viel lieber wäre Melanie bei ihrem Vater geblieben. Doch der hatte ja unbedingt diese andere Frau vögeln müssen. Und jetzt bekam sie einen kleinen Bruder und hatte doch keine Familie mehr. Alles war kaputt. Alles Scheiße.


Von der ganzen Aufregung hatte sie Pickel im Gesicht bekommen. Früher war ihre Haut so rein und zart gewesen. Jetzt sah sie blass und aufgedunsen auf. Dazwischen diese blöden roten Flecken mit den ewig gelben Spitzen. Egal was sie dagegen unternahm, nichts half. Sie hatte auch keinen Appetit mehr. Sie war schon ganz mager. Und die Locken, die ihr früher voller Spannung um das Gesicht gesprungen waren, hingen stumpf und kraftlos auf ihre Schultern herunter. Geld war auch keins mehr da. Woher sollte es auch kommen? Ihre Mutter hatte keine Arbeit und ihr Vater weigerte sich, zu zahlen. Er sah auch nicht ein, dass er einen Fehler gemacht hätte. Wer hatte ihre Ehe denn schon vor langen Jahren aufgegeben gehabt, hatte er ihrer Mutter im letzten Streit entgegengehalten. Wer hatte sich denn von ihm abgewandt – in jeder Hinsicht? Nein, sie könne ihn nicht dafür verantwortlich machen, dass er sich eine neue Frau gesucht hatte. Eine, die auf ihn einging, ihn begehrte, ihn verstand. Vor allem aber mit ihm redete. Melanies Mutter hatte schon lange aufgehört, zu reden. Auch mit Melanie. Und das war vielleicht am Schlimmsten.


Verstehen konnte Melanie das alles nicht. Sie wusste nur, dass sie verloren war. Dann kam die neue Schule und alle waren gegen sie. Die Mädchen in der Klasse blickten ihr mit Abscheu entgegen, die Jungen schauten gar nicht erst hin. Sie wünschte, sie wäre unsichtbar. Doch die Pickel leuchteten. Selbst im Dunkeln. Und ihre Haut fühlte sich viel zu klein an, um sich darin zu verstecken.


Dann kamen die ersten Attacken. Zuerst war es nur ein Schulheft, das einfach nicht mehr in ihrer Tasche war. Dann fehlten die Knöpfe an ihrer Lieblingsjacke. Im Sportunterricht wurde sie nicht in die Mannschaft gewählt und in der, in der sie dann automatisch landete, machten alle einen großen Bogen um sie. Der Ball flog ihr öfter an den Kopf, als sie zu zählen wagte. Immer drauf. Die Noten wurden schlechter. Ihre Mitarbeit hörte auf. Sie versuchte, sich ganz klein und unsichtbar zu machen. Doch nichts half. Nie hätte sie gedacht, dass Menschen in ihrem Alter so grausam sein konnten. Die kannten sie doch gar nicht. Hatten ja nicht einmal den Versuch gemacht, sie zu mögen. Sie war ganz allein.


Als sie mitten im Winter im Park spazieren ging und ihre Spuren im Schnee sehnsüchtig zurückverfolgte, da fielen sie über sie her. Wie eine Schar Krähen kamen sie über sie. Erst lautlos, dann keifend und mit spitzen Schnäbeln auf sie einhackend. Die Stiefeltritte taten am meisten weh. Zumindest körperlich.


Genau so plötzlich, wie sie aufgetaucht waren, waren sie auch wieder verschwunden. Wenn die Schmerzen nicht gewesen wären und das Blut, das leuchtend in den Schnee sickerte, dann hätte sie vielleicht geglaubt, es wäre nur ein schlechter Traum. Mühselig rappelte sie sich auf die Knie, kam schwankend auf die Beine. Ein paar Schritte nur, dann könnte sie sich gegen den Baum lehnen. Dann wäre sie in Sicherheit. Aber vielleicht wäre es besser, einfach ihren Knien nachzugeben, sich fallen zu lassen. Der Schnee würde sie sicher bald bedecken. Eine friedliche, ruhige Decke. Ihr Grab.


Sie dachte nicht an die Kälte. Der Tod hatte keinen Schrecken für sie. Alles, wirklich alles war besser, als dieses Leben. Diese Hilflosigkeit. Diese Grausamkeit. Ja, fallen lassen. Einfach loslassen. Wie einfach das schien. Wie einfach das war.
Fast schwerelos fiel sie in diese starken Arme. Warm und wohlig waren sie. Ganz zart und fühlend. Ein Nest. Behaglichkeit. Wie lange hatte sie auf diesen Moment gewartet. In all ihren Träumen war er da gewesen. Immer hatte sie gehofft. Nur geglaubt hatte sie nie. Auch jetzt glaubte sie nicht daran. Doch sie wollte diesen Traum weiter träumen und schmiegte sich ganz tief hinein in diese Arme, die sie hochhoben, sie forttrugen, sie wärmten.


Sie hielt die Augen fest geschlossen. Sein Atem streifte ihr Gesicht. Er roch leicht nach Pfefferminze. Es war ein angenehmer Geruch. Er sprach nicht. Trug sie nur einfach fort. Sie fragte nicht, wohin.
Als sie angekommen waren, legte er sie in ein weiches Bett und zog sie aus. Er badete sie und das heiße Wasser umschmeichelte ihren mageren, geschundenen Körper. Dann rieb er die blauen Flecken mit einer wohl riechenden Salbe ein. Sie ließ es geschehen. Verfolgte sein Tun mit ihren blauen Augen. Er war schön. Groß und schlank und muskulös. Sein dunkles Haar war weich. Es schimmerte sanft durch den Dampf des Badewassers. Seine Bewegungen waren wie ein Tanz. Sein Blick war weich wie sein Haar und die Augen genau so dunkel. Eine Traurigkeit lag in ihnen, die sie nicht greifen konnte.
Dann schlief sie. Tief und lang und traumlos.


Als sie aufwachte, sah sie ihn am Fenster stehen. Draußen wirbelten noch immer weiße Flocken. Er lächelte sie an. Von da an war ihr Leben anders. Sie lernte, zu vertrauen. Sie vertraute ihm. Aber er lehrte sie noch viele andere Dinge. Unter seiner Führung wurde sie stark. Nach und nach verblasste ihr altes Leben. Die Risse und Wunden schlossen sich. Ihr Körper wurde fest und kräftig, die Haut glatt und schön. Ihr Haar erlangte seine alte Spannkraft zurück. Ihre Augen blickten entschlossen.


In der Schule mieden die anderen ihren Blick. Fast war es, als schämten sie sich. Ab und zu noch erhaschte sie den einen oder anderen fragenden Blick. Doch keiner wagte es mehr, sie anzufassen oder hässlich zu ihr zu sein. Ihre Noten wurden besser. Der Klassenlehrer meinte, sie sei nun auf einem guten Weg.


Dann kam der Abend mit der Schulfeier. Die Prüfungen waren vorbei. Es sollte ein Abschied sein. Alle waren schick angezogen. Lange Abendkleider, schwarze Anzüge. Es gab Musik und Tanz. Ausgelassenheit. Melanie war auch da. Und er war bei ihr. Sie war glücklich. Achtete nicht auf die anderen. Ganz ergeben in ihren eigenen Traum. Voller Verlangen nach mehr. Die neugierigen Blicke bemerkte sie nicht. Zunächst. Bis ihr eigener Blick auf das Fenster fiel. Da sah sie sie. Der Ausdruck in ihren Augen hässlich, gierig. So neidvoll. So ungläubig. Sabrina war immer die Rädelsführerin gewesen. Reich, privilegiert, besser als alle anderen. Und jetzt wollte sie ihn. Schmachtete ihn an. Streckte ihre verwöhnten Finger nach ihm aus. Niemals.


Es war leicht gewesen den Zettel zu schreiben. Ihn ihr zuzustecken. Sabrina hatte gar nicht gemerkt, wie er in ihre Hand gekommen war. Als sie ihn gelesen hatte, hatte sie gelächelt, triumphiert. Sie gewann immer. Sie kam immer davon. So sicher war sie sich ihrer selbst. Ohne zu zweifeln war sie nach draußen gegangen. Sie hatte niemandem etwas gesagt. Warum auch? Es ging ja niemanden etwas an.


Doch am vereinbarten Ort, am Eingang zur dunklen Gasse hinter der Schule, da wartete nicht der schöne Mann. Es war Melanie, die sie dort traf. Der Blick finster und grausam. Furchteinflößend. Zunächst. Im Dämmerlicht der Straßenlampe dann veränderte er sich. Sie lachte. Lachte und konnte nicht mehr aufhören, zu lachen.


   

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